Das Gewissen als innerer Gerichtshof
- islamalevi
- 26. Feb. 2017
- 3 Min. Lesezeit
Um ein Verständnis für den Koran zu gewinnen, reicht es nicht aus, diesen nur zu lesen. Der Hauptunterschied zwischen uns Aleviten und den Sunniten besteht in der Deutung des Korans. Wir deuten diesen immer mit der Interpretation unserer Ehli Beyt.
Bestimmt hat der ein oder andere von euch eine Stelle im Koran gelesen, dessen Bedeutung ihm „unislamisch“ vorkam. Oder vllt. wurde von euren Mitmenschen ein Vers aufgesagt, dessen Sinn euch verschleiert war. Oder aber ihr hört andere Moslems, bsp. Sunniten einen Vers aufsagen, der ihre Handlungen rechtfertigen soll. Frauen schlagen, Kinder heiraten, Menschen töten werden auf einmal mit Versen aus dem Koran begründet. Man liest diese Verse und runzelt die Stirn. Man fragt sich: Warum gibt es im Koran Stellen, welche von Sunniten und Aleviten (aber auch Schiiten) anders gedeutet werden? Die Antwort ist immer dieselbe: Weil wir den Koran mit der Ehli Beyt deuten. Nur mithilfe der Ehli Beyt können wir wissen, welche Verse zeitlos und welche nur im historischen Kontext zu verstehen sind. Für uns gehören Ehli Beyt und Koran zusammen. Dies hat uns der Prophet Mohammed zu seiner Zeit verkündet. Man kann sie nicht voneinander trennen. Für die Sunniten hingegen ist eine Deutung des Korans auch ohne Ehli Beyt möglich, eine Vorstellung, die uns hingegen utopisch vorkommt.
Wir haben ein paar Stellen für euch zusammengesucht, welche für euch evtl. einen „zweideutigen“ Sinn haben könnten und haben diese kurz und knapp mithilfe der Ehli Beyt erklärt.
Um drei Beispiele zu geben:
In der Sure 2 „Die Kuh“ (Bakara) gibt es im Vers 191 folgenden Satz: „Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben; (...) Greifen sie euch jedoch an, dann schlagt sie tot. Also ist der Lohn der Ungläubigen.“
Ohne die Deutung der Ehli Beyt kommt man auf den Gedanken, dass es im Islam erlaubt sei, Ungläubige zu töten. Wir Aleviten wissen jedoch, dass das nicht stimmt. Dieser Vers ist stets im historischen Kontext zu verstehen. Dieser Vers legitimierte eine Verteidigung, keinesfalls jedoch einen Angriff. Zur damaligen Zeit, als der Islam verbreitet wurde, ist man auf viel Widerstand gestoßen. Teile der damaligen Bevölkerung haben diese neue Religion angegriffen, um die Verbreitung zu stoppen. Es kam zu Kriegen. Dieser Vers beschreibt diesen Zustand. Er erlaubt nur den Angriff der anderen zu verteidigen, indem man sich selber schützt. Keinesfalls jedoch andere aufgrund eines anderen Glaubens zu töten. Diese Aussage wird sodann in zahlreichen Versen wiederlegt. Es heißt in Sure 2 im Vers 256 weiter: „Es sei kein Zwang im Glauben.“ Spätestens hier wird klar: Andere aufgrund eines anderen Glaubens anzugreifen, ist nicht islamisch.
Weiter heißt es in Sure 4 „Die Weiber“ in Vers 34: „Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten), wie Allah für sie sorgte. Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet – warnet sie, verbannet sie in die Schlafgemächer und schlagt sie.“
Hier erleben wir einen Übersetzungsfehler schlechthin. Liest man hier die Stelle auf Arabisch gelangt man zu dem Schluss, dass das Wort „Widerspenstigkeit“ eigentlich hätte mit „untreu und anstandslos“ übersetzt werden müssen. Das Wort „schlagt sie“ hätte mit „verbannt sie aus eurem Haus“ übersetzt werden müssen. Und plötzlich gewinnt der Vers eine andere Bedeutung. Körperliche Gewalt wird mit einem Mal nicht mehr legitimiert.
In Sure 8 „Die Beute“ wird im Vers 22 geschrieben: „Siehe, schlimmer als das Vieh sind bei Allah die Tauben und Stummen, die nicht begreifen.“
Hier wird keineswegs - wie manch einer meinen könnte - auf die Seh- und Hörbehinderten hingewiesen. Es sind die, die sich taub stellen und nicht sehen wollen, auf die angespielt wird. Jemand der seine Augen und Ohren vor den Gräueltaten anderer verschließt, es erlaubt, dass Ungerechtigkeit geschieht und tatenlos zusieht, ist tatsächlich schlimmer als ein Tier.
Es könnten noch zahlreiche Stellen aufgezeigt und mit der Ehli Beyt gedeutet werden. Zum Schluss dieser Deutung würde dann aber immer der alevitische Weg stehen.
Der Koran unterstützt das Gewissen eines Menschen. Manchmal, im Alltag vor allem, reicht es aus, sein Gewissen zu bestimmten Sachverhalten sprechen zu lassen. Kant hatte diesbezüglich einst gesagt: „Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen [...] ist das Gewissen.“
Wir Aleviten wissen das.
(Die Koranübersetzung ist die Übersetzung von Max Henning, 6. Auflage 2016, Nikol Verlag.)
Aktuelle Beiträge
Alle ansehenZunächst soll die Abstammung des Begriffs des Alevitentums näher erläutert werden, um diesbezüglich Klarheit zu verschaffen. Die...
Comments